„Der Dichter Walle Sayer braucht nur wenige Wörter, um in das Zentrum unserer Existenz zu gelangen. Er gehört zur rar gewordenen Zunft der Poeten, die das Weglassen dem Ausschmücken vorziehen. (…) Er bewahrt sich die zentrale Eigenschaft, die für das Schreiben (…) unerlässlich ist: die Fähigkeit zum Staunen, jenen innigen Blick auf die Dinge, der unser Alltagsuniversum so ausleuchtet, als sähe man all diese Gegenstände zum ersten Mal.“

Alles wie beim ersten Mal sehen

So lobte der SWR Walle Sayer und machte mit dem neuesten Band „Mitbringsel“ einmal mehr eines seiner Bücher zum „Buch der Woche“. Aber ist Walle Sayer „nur“ ein Lyriker? Sind seine zwar in der Form kurzen, im Inhalt aber schier grenzenlosen Miniatren oder, wie er selbst es so treffend nennt, „Feinarbeiten“ nicht etwas, das einen ganz eigenen Gattungsbegriff bräuchte? -Wenn es diesen nicht mit „Feinarbeiten“ schon längst hat-?

Der Beschäftigungstherapeut verordnet Nichtstun (Auszug)

Also wiegt man
Schneeflocken ab,
schöpft Wasser mit dem Sieb,
entrümpelt eine ausgeräumte Wohnung (…)
Aus: Walle Sayer, „Mitbringsel“.

Walle Sayer, 1960 in Bierlingen geboren, lebt seit 1992 als freier Schriftsteller in Horb am Neckar. Seine Bücher sind im Verlag Klöpfer & Meyer erschienen, wo man dem Autor den Freiraum ließ, seine – wie er sie selbst nennt – „Prosagedichte“ unverfälscht durch Lektoreneingriffe und Marketingstrategien an den Leser zu bringen. Ein Glücksfall für die Gegenwartsliteratur, ganz gleich welcher Gattung: Sayers Miniaturen machen den Blick auf für das Kleine und Übersehene, geben dem Übersehenen die Qualität des Einzigartigen zurück.

Walle Sayer kann aus bekannten Gründen nicht auf unserem Festival lesen. Aber wir können ihn lesen. Wenn wir auch auf die angenehme persönliche Begegnung mit diesem Autor der leisen Töne verzichten müssen – er steht uns dennoch zur Verfügung und hat uns ein paar Fragen zu seiner Arbeit beantwortet:

Vier Fragen an Walle Sayer

Wo und wie entstehen die Texte, wie wird der Prozess des Formulierens und Schreibens in Gang gesetzt?

„Stell einen Notenständer ins Freie, schon sammeln sich darauf Schwalben. Sag statt Boden Erdreich, schon stehst du woanders“ – wäre eine poetische Antwort auf diese Frage.

Eine prosaischere hab ich einmal in einer Miniatur gegeben, die „Stillarbeit“ heißt, in der es um das Wo, das Wie und das Was geht:

Das Kerngehäuse einer Stunde. Fernher die Morsezeichen eines Spechtes. Nebenan ist das Kind am Einschlafen, dessen Süßigkeitenverstecke du kennst. Die Baumsilhouetten im Garten, eine dämmrige Abwehrreihe. Der unterstrichene Satz im aufgeschlagenen Buch, kaum länger als die Naht zwischen dir und deinem Schatten. Die heutige Blickausbeute: Maurerhände, die sich betrachten ließen wie eine Karstlandschaft. Stufen hinuntergehen, als seien es Stapfeln. Rar und karg: zwei Dochte. Im Lampenschein verläuft die Geschäftigkeit einer Ameisenstraße, Brechungswinkel von Fensterbrett und Tagesrand.

Welchen Beitrag kann aus Ihrer Sicht die Literatur an historischen Wendepunkten, wie wir nun einen erleben, leisten?

Direkt darauf reagieren, das kann sie wohl nur in Form von Artikeln, Aufzeichnungen, Tagebucheinträgen. Was das alles mit uns macht, ist eher eine Langzeitstudie. Literatur braucht immer einen gewissen Abstand, um genau zu sein.

Aber eine Bibliothek daheim zu haben, das ist schon etwas Lebenswichtiges in solchen Zeiten…

Mundschutz

Das, was die Seuchenhistorikerin im Radioforum gerade wie nebenbei sagte: daß im Mittelalter, in der frühen Neuzeit, die Pestkarren nicht mehr mit Metall beschlagen werden durften, damit das Klappern in den Straßen aufhörte, das dauernde Totengeläut ausgesetzt wurde und nur noch am Freitag für alle gemeinsam geläutet. Es rasch notieren. Ein mechanischer Impuls. Genauso wie heute Morgen das Ausschneiden des Detailbildes im Lokalteil, als ausge-schnittenes Rechteck kaum größer als ein gegenwärtiger Mundschutz. Ein Mundschutz für die Augen, ins Tagebuch eingeklebt, auf dem die Dämonenskulpturen an der Westfassade eines Stadtkirchturmes zu erkennen sind: sie stellen ein Drachenrelief dar, einen Bärenkopf, sein aus dem Maul wachsendes Geweih, und ein grinsendes Gesicht mit Schweinsohren.

(31.3.2020)

 

Was hat Ihre Art des Beschreibens und Erzählens geprägt?

„Dichter wird man in der Kindheit“, so die russische Dichterin Marina Zwetajewa. Meine ereignete sich, als das alte, noch landwirtschaftlich geprägte Dorf sich wandelte, anfing sich aufzulösen. An der Furtstelle zwischen Althergebrachtem und Neumodischen, im Ungleichzeitigen. Meine Vorfahren waren Tagelöhner und Kleinbauern, Nebenerwerbslandwirte, und einfache Handwerker, die zu Schichtarbeitern wurden. Vielleicht liegt hier schon die Weichenstellung für meine Art von Literatur, dem Gedicht, der kleinen Form. Mit so einem kleinbäuerlichen Hintergrund, rede ich mir ein oder kokettiere ein wenig mit meiner Herkunft, wird man wahrscheinlich eher kein Großschriftsteller, wird man wohl nie weite Romanfelder bewirtschaften, sondern bleibt beim Nutzgarten, dem Krautland der Poesie. Dass man sich als Dichter sein Thema eigentlich nur bedingt selbst wählen kann, gehört zu diesem Hintergrund. Als sei also, was man zu sagen hat, durch Herkunft und Kindheit in einem angelegt und durch die Biographie, die daraus erfolgt. Allerdings „beleuchtet das Biographische nur die äußeren Umstände des Entstehens von Poesie“, wie Wislawa Szymborska einmal notierte.

 

Es ist das „Alltägliche, das Unscheinbare, das Unauffällige“, das man in Ihren Texten ganz neu entdeckt. Was ist denn dieses „Alltägliche, Unscheinbare, Unauffällige“, das zwar viele beschrieben wollen und doch daran scheitern?

Unser Alltag besteht im Großen und Ganzen halt aus dem Flüchtigem, dem Banalen, dem Vergänglichen, dem Immergleichen, Wiederkehrenden. Ich glaube, einen anderen Stoff, ein anderes Material gibt es nicht für das Gedicht. Der Reiz liegt darin, das Große im Kleinen zu entdecken: „Der Felsbrocken des Brotkrümels, wenn ihn die Ameise schleppt“ – diese Gedichtzeile klingt da fast wie ein Motto.

Die Sprache des Gedichts ist das Gegenteil von Rhetorik, von Geschwätzigkeit: kein Wort zuviel, nichts Überflüssiges also. Es geht für mich um die Wirkung, die man mit der Reduktion erzielt, um den Schwebezustand durch das Nichtausgesprochene, nur Angedeutete, Umkreiste. Das Unverständliche, das zwischen zwei klare Zeilen paßt. Eine uralte Gedichtformel lautet: mit einem Minimum an Worten und Aufwand ein Maximum an Bedeutung erzeugen. Mit wenig Worten viel sagen, das hat immer mit einer besonderen Form von Intensität zu tun.